unser buch des monats
In dieser Rubrik möchten wir Bücher vorstellen, die entweder ganz „frisch“,
ein wenig ungewöhnlich oder ausgesprochene „Lieblingsstücke“ unserer Dozent:innen sind.
Annie Ernaux
Nobelpreis für Literatur 2022
Empfehlung: Barbara von Wysocki
„Ihr Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, die Entfremdungen und die kollektiven Beschränkungen der persönlichen Erinnerung aufdeckt“,
war u.a. die Begründung der Schwedischen Akademie der Wissenschaften für die Auszeichnung mit dem Nobelpreis für Literatur 2022 für Annie Ernaux, der ersten französischen Frau nach vorangegangenen fünfzehn männlichen Preisträgern Frankreichs.
Deshalb möchte ich in diesem Monat nicht über ein ganz besonderes Buch sprechen, sondern die Schriftstellerin Annie Ernaux, geboren 1940, vorstellen. Seit mehr als vier Jahrzehnten schreibt Annie Ernaux Bücher, sie ist in Frankreich mit vielen literarischen Preisen bedacht worden und trotzdem blieb sie, wie man sagen könnte, in Deutschland lange Zeit „unter dem Radar“, eher unauffällig in der flottierenden Literaturszene. Übersetzungen ins Deutsche folgten erst sehr viel später nach Erscheinen ihrer Bücher in Frankreich. Warum blieb das, was Annie Ernaux zu sagen hat, so lange so diskret, so überwiegend nur im Kreis der Liebhaber:innen, ja, der „Fans“ ihres Schreibens und ihrer Themen beachtet? Warum bedurfte es des „Highlights“ der Literatur, des Nobelpreises, dass Annie Ernaux nun auch ins Interesse weiterer Leser und Leserinnen gelangt ist?
Annie Ernaux’s Schreiben packt uns an, sie legt Bereiche der Erinnerung frei, die wir bewusst oder unbewusst in uns vergraben haben. „Erst in der Erinnerung sind wir ganz dabei“, heißt es bei Sigmund Freud. Annie Ernaux geht noch einen – entscheidenden - Schritt weiter. So lautet der Leitsatz zu ihrem 2022 erschienenen Buch „Le Jeune Homme“ (im Januar 2023 in deutscher Übersetzung): „Wenn ich sie nicht aufschreibe, sind die Dinge nicht bis an ihr Ziel gelangt, sie sind nur erlebt“
(‹Si je ne les écris pas, les choses ne sont pas allées jusqu’à leur terme, elles ont été seulement vécues›). Es bedarf der schriftstellerischen Verarbeitung, damit die Erinnerungen konkret werden und somit auch überdauern. Als „Ethnologin“ ihrer selbst hat sich Annie Ernaux bezeichnet, die aus dem selbst Erlebten, Erinnerten und Beschriebenen eine Sozial-und Kulturgeschichte der Frau in der zweiten Hälfte des 20. und dem Beginn des 21. Jahrhunderts entfaltet, ja, dokumentiert, deren gesellschaftlich verordnete Eingrenzungen aufdeckt und damit aus dem Individuellen das Allgemeine, das kollektive Gedächtnis Frankreichs freilegt. Der Stil ihres Schreibens ist präzise, eher schlicht,
« sans fioritures », ihre Poesie besteht in ihrer sprachlichen Klarheit, der Genauigkeit der erweckten Bilder, der Abwesenheit persönlicher Sentimentalitäten, ihrer Fähigkeit, uns in sie hineinfühlen zu lassen, damit wir uns dann dort selbst antreffen können. „Re-sentir“, Zurück-Fühlen, ist das schriftstellerische Verfahren Annie Ernaux’s. Erinnerungen tauchen plötzlich, beinahe schreckhaft auf, erzeugt durch ein zufälliges Wort, ein Bild, ein Foto, und erwecken ein ganzes Universum der gelebten Zeit. Orientiert an ihrer eigenen Geschichte, dem sozialen „Aufstieg“ aus der provinziellen Unterschicht einer normannischen Kleinstadt in die französische Mittelschicht durch Studium und Beruf als Lehrerin, und noch weiter, als freiberufliche Schriftstellerin in die Schicht der kulturellen Verbindlichkeiten der Literatur- und Gesellschaftsclans, zeichnet sie die schmerzliche Distanz auf, die sich zwischen dem Leben ihrer Herkunftsfamilie und ihrem eigenen Leben im Verlauf der Jahrzehnte ergeben hat. Diese Distanz, der Annie Ernaux eine gesellschaftspolitische, ja, eine universelle Dimension zumisst, begleitet sie während ihres gesamten Schaffens und prägt ihre Erinnerungsarbeit („Ich suche nach der Wahrheit der Erinnerung“). Pierre Bourdieu und seiner Theorie der sozialen Klassifizierung gedanklich nah, wird sie selbst zur Inspiratorin aktueller französischer Schriftsteller wie Didier Eribon („Rückkehr nach Reims“) und Éduard Louis („Das Ende von Eddy“). Ganz sicher war es Annie Ernaux, die ihnen zum schriftstellerischen Aufbruch in vergleichbare thematische Zusammenhänge verhalf: das Verlassen der sozialen Klasse der Elternfamilie (‹transfuge de classe›), das Annie Ernaux noch bis in die Jetztzeit als ihren Verrat empfindet, und das zeit- und klassengebundene Leben des Vaters, der Mutter, der Freunde aus frühen Zeiten – und ihrer selbst.
In ihrer Dankesrede zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur weist Annie Ernaux auf die aktuelle Revolte der Frauen in vielen Ländern hin, denen es mehr und mehr gelänge, die männliche Macht zu erschüttern (…‹bouleverser le pouvoir masculin›). Sie selbst aber, so fährt sie fort, frage sich weiterhin, welchen gesellschaftlichen Platz Frauen in einem demokratischen Land wie Frankreich noch heute einnehmen, in dem für „männliche Intellektuelle“ von Frauen geschriebene Bücher ganz einfach (‹tout simplement›) nicht existieren und von ihnen niemals (‹jamais› ) zitiert werden. Folglich betrachte sie die Verleihung des Nobel-Preises nicht als einen individuellen Sieg, sondern, in einer gewissen Weise, als einen mit Frauen gemeinsamen Sieg (‹une victoire collective›). Und deshalb werde sie weiterhin ihre Stimme als Frau und als soziale „Überläuferin“ in den eigentlichen Ort der Emanzipation einbringen, in die Literatur:
‹Pour inscrire ma voix de femme et de transfuge sociale dans ce qui se
présente toujours comme un lieu d’émancipation, la litterature.›
Die im Suhrkamp Verlag erschienenen Werke Annie Ernaux’s wurden von Sonja Finck übersetzt.
Wir zeigen eine Auswahl.